Liebe Gemeinde,
es war noch tiefster November. Im Flur der Schule, an der ich unterrichte, verteilte eine Studierende Weihnachtsmandeln. Aus der Tüte schüttete sie den Vorbeikommenden welche in die Hand: „Wegzehrung, ganz frisch gekauft. Wegzehrung braucht doch jeder.“ Eigentlich bin ich da eisern. Vor dem ersten Adventswochenende kaufe ich mir keine Weihnachtssüßigkeiten. Aber diese Wegzehrung tat gut. Wegzehrung braucht doch jede und jeder.
Was ist Deine, was ist Ihre Wegzehrung für die kommende Advents- und Weihnachtszeit? Ich meine, außer selbstgebackene Plätzchen und Dresdner Stollen, außer Pulsnitzer Lebkuchen und Vanillekipferl.
Ganz sicher Licht. Ganz sicher sind es die vielen kleinen und großen Lichter, die wir in den kommenden Wochen anzünden werden, die überall in den Fenstern und Gärten leuchten, die unsere Kirchen schmücken. Und natürlich die Kerze, die am Heiligen Abend in der Krippe als Symbol für Christus brennt, Gottes Licht in der Welt, das nicht mehr auszulöschen ist.
Mich wird in den nächsten Wochen der Satz aus der Bibel begleiten, der für den Dezember 2024 ausgewählt ist: „Mache dich auf, werde licht; denn dein Licht kommt, und die Herrlichkeit des HERRN geht auf über dir!“ Ein Satz, der sich bei dem Propheten Jesaja im Alten Testament findet (Jes 60,1). Ein Satz, der für Menschen damals wohl Wegzehrung gewesen ist. Sonst wäre er nicht über Jahrhunderte weitergegeben worden, hätte sonst keinen Eingang in die Bibel gefunden.
Für mich spricht dieser Satz von der Hoffnung, dass es sich lohnt, sich aufzumachen, weiterzugehen, voranzugehen. Er lädt uns ein, der Zukunft, dem Leben und letztendlich Gott etwas zuzutrauen. Lädt Dich, lädt Sie ein, darauf zu vertrauen, dass der Blick in die Zeitung oder ins Nachrichtenportal nicht die ganze Wirklichkeit zeigt, dass da mehr Licht in der Welt ist. Lädt Sie ein, die Erwartung und die Sehnsucht nicht loszulassen, wenn die eigene Partnerschaft leer, dürr, unerfüllt und tot scheint. Macht Mut, nicht aufzugeben, wenn der ständige Erfolgsdruck auf Arbeit zu schwer zu werden droht.
Zünden Sie sich in der Adventszeit manchmal ein Licht an, auch ganz für sich allein. Und stellen Sie sich vor, dass mit diesem Licht Gott zu Ihnen kommt. Davon wird nicht einfach alles gut. Aber es hilft, die vielen Lichter zu sehen, die schon da sind, die Ihr Leben immer wieder hell machen. Es hilft so zu leben, als ob mehr Licht zu sehen wäre. Licht, dass nur gerade von Kummer- oder Sorgenwolken verdeckt wird. Und es hilft, sich aufzumachen und selber licht zu werden. Selbst zu einem Licht zu werden, das in der Dunkelheit leuchtet.
Euch und Ihnen eine gesegnete, lichtvolle Advents- und Weihnachtszeit,
Ihr Pfarrer Johannes Markert
Foto: Grit Markert, 2024
Wort zur Jahreslosung
Behutsam gleitet der Staubwedel durch das Regal. Immer wieder hält die Hand inne, die den Wedel führt. Die Finger sind inzwischen etwas krumm, einige tragen Beulen, die Haut ist papierner als früher und die Innenseiten haben tiefere Furchen. Glänzend und treu und ein wenig alterstrübe sind die Augen, die besehen, was der Wedel im Regal umfährt. Manchmal neigt sich das graue Haupt zur Seite und sieht länger hin, manchmal nimmt eine Hand etwas heraus und manchmal geht dann ein Lächeln über lebenssatte Wangen. Drei kleine Fältchen gesellen sich an den Außenseiten der Augen zu diesem Lächeln – und zu vielen anderen Fältchen, die die Jahre ins Gesicht gelegt haben. Für Momente scheint sie so zu schwelgen, die kleine Frau vor dem großen Regal, das sie langsam und sorgfältig entstaubt. Erinnerungen hat sie hier zu ihren liebgewordenen Büchern gestellt. Alte Bilder und Fotos stehen neben kleinen Figuren oder Steinen, auch Muscheln liegen da, in denen bestimmt noch ein Körnchen Sand aus Hiddensee verblieben ist. Stücke geronnener Zeit, die für Sekunden wieder lebendig werden, wenn sie durch ihre kleinen, alten Hände wandern. Dann fährt sie fort. Wieder gleitet der Staubwedel behutsam durch das Regal. Von Buchrücken zu Buchrücken, von Bildern zu Figuren, von Erinnerung zu Erinnerung. Bibeln und Gesangbücher sind einige dabei. Manchmal nimmt sie sie heraus, blättert ein bisschen, liest ein Stück, singt ein Lied. Dann stellt sie sie jedes Mal wieder zurück. Sie müssen im Regal bleiben, weil einfach zu viel Gutes darin versammelt ist. Plötzlich hält sie an. Sie nimmt einen kleinen Stein heraus. Kein Lächeln geht über ihre Wangen. Ihr Blick ist dennoch gütig. Einmal noch geht er durch ihre Finger. Ein Seufzer steigt aus ihrer Kehle. Dann legt sie ihn beiseite. Sein Platz im Regal bleibt frei. Das Stück geronnene Zeit wird zur Vergangenheit.
Seit langem pflegt sie diesen aufmerksamen Weg durch ihr Regal. Seit die Jahreslosung lautete: „Prüft alles und behaltet das Gute!“. Da fing sie damit an. Damals noch ganz für sich. An manchen Tagen, mit geschlossenen Augen, vor ihren inneren Regalen. Sie erinnert sich gut an die bewegten, ungewissen Zeiten von damals. Sie erinnert sich an kleine und große Steine, die nicht für Gutes, sondern für Schweres standen, dass sie nur mühsam loslassen konnte. Einmal für gut befundene Entscheidungen, die sich nicht als tragfähig erwiesen hatten, waren genauso darunter, wie Neues und Ungewohntes, das manches Altbewährte und Altbekannte ablöste. Aber mit der Zeit wurde der Gang durch ihr Regal Gebet. Und dann konnte irgendwann Nichtgutgewordenes und Fürgutgehaltenes Vergangenheit werden. Und manchmal – nicht immer, aber manchmal – wurde ihr Blick schärfer für das, was bleiben kann. Sie weiß auch heute noch gut, dass nicht jedes Prüfen gleich zum Guten führt. Aber sie ist sich sicher, dass es besser geworden ist. Und wie sie den Stein aus ihrer Hand gleiten lässt und den Staubwedel wieder hebt, während sich doch eine Träne in ihren Augenwinkel schleicht, spürt sie eine große Hand auf ihrer kleinen Schulter. Drei Falten am Auge drücken die Träne heraus. Und dann fährt sie fort, behutsam, mit dem Staubwedel durch ihr Regal.
Pfarrer Sebastian Schirmer